
Die Stadtbibliothek an der Frankfurter Allee ist immer noch mein bestes Reisebüro, fast jede Woche streife ich dort durch die Regale. Manchmal gucke ich nach Buchstaben, Autoren am Ende des Alphabets, oder welche mit M,, oder ich lasse mich ablenken von dem, was ausgestellt weil neu ist. Auswahl und Reihenfolge sind möglichst zufällig. Manche Geschichten vergessen sich schneller als andere. Mit Vorliebe buche ich Reisen in die Fremde, (letztes Jahr hatte ich mal eine Phase nur mit Büchern von Expeditionen zur Antarktis und nach Tibet, vielleicht kommt das wieder mit der Kälte), selten geht es ins geteilte Erinnern, deutsche Kindheiten, ach die ganze mit sich selbst und dem banalen Mittelstandsalltag beschäftigte deutsche Gegenwartsliteratur, interessieren mich gerade so was von gar nicht, lieber Weltflucht in fetten Schmökerkitsch, manchmal direkt in die apokalyptische Gegenwart.
Christine Wunnicke, Die Dame mit der bemalten Hand, Berenberg, 2020, Den bremischen Kartographen und Mathematiker Carsten Niebuhr und den persischen Astronomen Musa al-Lahuri hat es Ende des 18.Jahrhunderst zufällig auf die kleine Insel Elephanta oder Gharapuri vor Bombay verschlagen. Sie nennen den Ort unterschiedlich, wie auch die Sterne für sie andere Namen, Bilder und Bedeutungen haben. Können sie sich dennoch verstehen? Dass sie das auf Arabisch versuchen hilft nicht richtig. Gemein its Ihnen immerhin der Hang zu Zahlen, die Berechenbarkeit der Welt gibt ihnen Halt und Ordnung. Sie kommen aus verschiedenen Weltteilen, unterschiedlichen Ideologien und Kosmologien, doch sie betrachten den selben Himmel. Als sie nach wenigen Tagen von der Insel gerettet werden, trennen sich ihre Wege wieder. Und dann? Nichts. Aber verspielt kluge Übung über die Vermessenheit.
Marleen Haushofer, Die Wand, (Ich-Auflösung ohne kosmische Angst, Lovecraft zugeschrieben, keine Ahnung weshalb, irgendwo sind die Zettel abgeblieben. Musste ich ersetzen wegen Rotweinflecken, kein Nachteil, gutes Buch zum Behalten
Eric Vuillard, Die Tagesordnung, Matthes &Seitz, 2017, Wie die deutschen Großfinanzbonzen und ein paar europäische Pappfigurpolitiker 1933 mal kurz Hitlers Ermächtigung abnickten, von Zwangsarbeitern profitierten und bis heute unsere Welt vom Staubsauger zum Waschpulver und dem Rest bestimmen -Krupp, Bayer, BASF, Opel, Siemens, Allianz, you name it.. Der Irrsinn historischer Fakten verdichtet sich mit Hegels Weltgeist zu einem angemessen irren Kammerspieldrama, größenwahnsinnig, wüst, pathetisch, böse, verstörend.
Dave Eggers, Every, Kiwi 2021 Nachfolger von The Circle, der Dystopie der totalen Transparenz, Überwachung und Macht durch die www- Meta-Monopolisten. Die weiter die Börse beherrschen. Eine Rebellin versucht das System von innen zu knacken, indem sie immer absurdere Selbstversklavunsg-Apps entwickelt, was natürlich…Spannend, Figuren etwas Plastik , Plot getrieben, der sich aber doch recht erwartbar entfaltet: totale Kontrolle durch freiwillige und erwünschte Online-Diktatur, Befreiung von Eigenverantwortung durch digitale Herrschaft, Weltrettung von oben durch den benevolent dictator. Der Chip am Armband und ist ja keine so utopische Zukunftsvision mehr. Ohne Tracking-App darf man derzeit in vielen Ländern gar nicht mehr einreisen.
Colson Whitehead, Underground Railway, Hanser, 2017 Pulitzer-gepreister, afroamerikanischer Autor und Roman über eine Sklavenbefreiungsroute, die nicht als Metapher für ein historisches Netzwerk, sondern als „echter“ Untergrundzug durch fiktionalisierte Stationen aus den Südstaaten in die Freiheit führt. Heldin ist eine junge Frau, die Brutalität der Sklavenhalter, der mörderischen Ausbeutung, des Rassismus-Wahns und Mobs wird in splatterhaftem Realismus ausgebreitet, inzwischen als Serie verfilmt, hätte man sich denken können, plotgetrieben spannend, „amerikanisch“, konventionell mit Ausrutschern zum Kitsch und literarisch durchaus schlicht erzählt. Warum finden das alle so toll?
Amy Waldman, Das ferne Feuer, Schöffling 2020,, Amerikaner beschenkt ein armes Dorf in der afghanischen Provinz mit einer Geburtsklinik. Dazu schreibt er einen herzergreifenden Bestseller, gründet eine NGO, sammelt haufenweise Spenden. Und bringt den Krieg ins Dorf. Die Amerikanischen Militärs wollen eine Straße dorthin bauen, die bringt den Jugendlichen nicht den Anschluss an die Moderen, sondern den Tod. Das naiv verblendete Gutmenschentum, das alles falsch macht, eitel und paternalistisch ist, die kolonialistische Viktimisierung der „rückständigen“ Muslime und ihrer Frauen, der Irrsinn der westlichen Armeen in Afghanistan, die Autorin war eine Weile für den New Yorker in Neu Delhi Korrespondentin und weiß wohl wovon sie spricht.
Ulrich Peltzer, Das bist du. Fischer 2021, Ja, das ist so ein Buch zum öfters von der eigenen Erinnerung abgelenkt zu werden. Kino, Cut ups, der Filmvorführer am eigen Werk. Rom Blicke lesen im alten Dschungel? Drogen illuminierte Neonnächte? Wohlstands-Existentialismus in Kreuzberg? Wieso waren eigentlich wir Mittelstandskinder mit allen Bildungschanchen so von No future affiziert? Wann ist Jetzt? War ich da?
Andrzej Szczypiorski, Die schöne Frau Seidenman. 1986, Ein Kaleidoskop lauter wunderbar fein gemalter und zugleich abgründig tiefschichtiger Portraits von großen und kleinen Menschen, die auf je ihre Art dazu beitragen, die schöne jüdische Polin in Warschau 1941-43 vor Gestapo, Spitzeln und Deportation zu retten. Auch die Bösen bekommen da ein Gesicht, das man zu erkennen lernen müsste, das „philosophische Fundament des individuellen Banditentums“, denn „Einsamkeit und Individualismus an sich bilden noch nicht die menschliche Würde, dazu gehört noch mehr.“ Ich hätte Rotwein und Tee drauf schütten sollen, um dieses anbetungswürdige Buch Weltliteratur zu behalten.
Amitav Ghosh, Die Inseln, Blessing 2019, In den Mangrovensümpfen der Sundarbans an der Grenze Indiens zu Bangladesch versinkt ein Schrein für die Schlangengöttin. Kennt der junge Enkel des ehemaligen muslimischen Bewachers die bengalische Legende und die Lieder noch? Ein Buchantiquar aus Kalkutta und Brooklyn, eine indisch-amerikanische Delfinwissenschaftlerin, eine venezolanische Historikerin, ein verirrter IT-Nerd und ein junger Klimaflüchtling sind die Detektive einer Weltgeschichte aus Taifunen, Bränden, verseuchtem Grundwasser, Klimakatastrophen, Vertreibungen und ein paar Geistern. Wann kriegt Ghosh eigentlich mal den Nobelpreis?
