Schlagwort-Archive: Obdach

Das Betriebsgeräusch der Seele

IMG_2120

Endlich wieder in den Lüften. Ein oder zwei Meter über der Erde, unverbunden. Eine namenlose kleine Frau setzt sich im Großraumabteil eines Zuges ans Fenster. „Wie immer, der Fahrtrichtung entgegen.“. Die schwarze Sporttasche schiebt sie unter den Sitz, den Riemen sicherheitshalber um den Fuß geschlungen. Alle ihre Besitztümer sind da drin. Ganz unten der Umschlag mit Papieren, ein paar Fotos, nie wieder aufgemacht, seitdem sie ihre Sachen gepackt hat. Das zweite Jahr ist sie jetzt unterwegs, die  Waggons der Deutschen Bahn ihr Zuhause, doch sie ist keine Reisende, keine moderne Nomadin, sie hat kein Ziel, sie kommt nirgends an, sie ist obdachlos. „Folge treu dem alten Gleise, wähle keine Heimat nicht“,  Die Zeile aus Schuberts Lied „Der Wanderer“ von Friedrich Schlegel liest sie in dem dicken gelben Buch, das sie als einziges mitgenommen hat. Albrecht Selge, der Autor dieses Romans, ist ein großer Klassikmusikkenner, er schreibt den tollen Blog „Hundert11 – Konzertgänger in Berlin“ auf  hundert11.net. Früher hatte die namenlose kleine Frau mit dem praktischen Kurzhaarschnitt eine Wohnung, eine Anstellung, einen Ehemann, eine beste Freundin, ein normales Leben halt in einer mittelgroßen Stadt. Jetzt hat sie eine BahnCard 100, Zug gefahren ist sie schon immer gerne, die Rente, zum Leben zu wenig, stockt sie mit Flaschensammeln auf. Sie fährt im Kreis durch Deutschland, nach ein paar schlimmen Nächten in Wartehäuschen nach einer festen Route, mit Zeitpuffern für die Anschlüsse, die Wartezeiten zum Umsteigen „vertrottet“ sie auf den Bahnsteigen. Mal geht sie zum Billigasiaten auf dem Bahnhofsvorplatz, mal Pfandgut eintauschen, selten verlässt sie die Bahnhöfe. Nicht auffallen, unsichtbar sein, keinen Raum einnehmen, die Unbehausten werden von den Behausten nur geduldet. Montags lädt sie ein pensionierter Arzt ins Bordbistro ein, Dienstags teilt eine schöne Bankerin mit ihr das Frühstück, Freitags spielt sie Backgammon mit einem Lehrer, karlheinzbohrer nennt sie ihn, weil er heimlich in der Nase bohrt. Die richtigen Namen dieser Zugbekanntschaften hat sie vergessen, sie spielen keine Rolle, Schall und Rauch oder so. Sie fährt, schaut aus dem Fenster, liest liegengebliebene Zeitungen und was es im Büchertauschregal gibt, sie putzt sich die Zähne, wäscht sich im Behindertenklo, die Dusche im Bahnhof kostet sieben Euro, wenn keiner guckt turnt sie, tänzelt, stampft gegen die vom Sitzen geschwollenen Beine. Die Landschaft fliegt vorbei, die Vertikalen verschmieren, alles wird zur Partitur ohne Ton, verschwimmende Noten auf Horizontlinien, „der Landschaft ist ja alles recht“.  Der Regen am Fenster zieht Schlieren wie ihre Seele, das Glas ein Spiegel, manchmal kommt da ein Bildersalat aus Eindrücken und Erinnerungen hoch, ein Scherbenfluss, ein heller Traum, blanke Stummheit. 

„Draußen war Sommer.“ Gibt es einen schöneren Satz, um Ausgrenzung und Verlassenheit auszudrücken? Kann man den Verlust an Teilhabe trauriger beschrieben als in diesen drei Worten? Draußen war auch Herbst und Winter und Frühling. Draußen war Tag und draußen war Nacht. Draußen war Wind und Regen und der Geruch von Staub und nassem Laub, der Geschmack von Wiesen und Kirschen. Nur die Nacht blickt durchs Fenster herein. Selges schmaler Roman ist voll solch knapper, oft ziemlich irrer und komischer Sätze, singend oder verruckelt im Rhythmus der Bahnschwellen. Sätze, die ich am liebsten alle abschreiben würde. „Das schönste Plem im guten Sinn“, und nirgends Weltschmerzkitsch. „Das Draußen fliegt der kleinen Frau davon. Diese geheimnisvolle und gleichgültige Welt. An ihrem Rand balancierend und kippelnd die kleine Frau, die nicht dazu gehört und nicht dazu passt.“ Sie schaut aus dem Fenster, aufs Meer, auf den Sternenhimmel, ertappt sich bei einer Sehnsucht nach der Kindheit, Heimat ach, nach dem All, auweia. Dann doch besser einen Kreisverkehr bemerken, das Steinbeet in seiner Mitte, seine Stolz machende Gelungenheit bestaunen. 

Mit dem vorbeifliegenden Draußen kommt ihr die Bodenhaftung, die Nähe, die Beziehung zur Welt und sich selbst abhanden. Sie fliegt, wird Raumkapsel, abgekapselt ihr Körper in der Klokapsel der leise vibrierenden Zugkapsel, nur im Eingang der Ohren ein leises Sirren und Summen, das sie für das Betriebsgeräusch der Seele hält. 

Geschichten erzählen muss man können. Aber eine Geschichte zu erzählen, in der nichts passiert, dazu braucht es Tricks, Kunst. In Albrecht Selges schmalen Roman „Fliegen“ gibt es so gut wie keine Handlung, keine Ereignisse, keinen Höhepunkt, keine Spannung, keine Entwicklung, kein Fortkommen. Die unscheinbare kleine Frau fährt im Kreis an Städten und Landschaften vorbei, sie macht flüchtige Bekanntschaften, sie erinnert sich an ein mittelmäßig gescheitertes Leben, an das, was sie nicht mehr hat, was ihr fremd wird, egal, gleichgültig wie die Welt, die ihr entgleitet. Sie schaut aus dem Fenster. Die Welt ist längst zu Ende. Und das ist, dank Selges lakonischem Grundton, überhaupt nicht pathetisch. Seine namenlose kleine Frau hat nicht das mindeste Zeug zur Tragödin, alles Große und Theatralische liegt ihr fern, nie hat sie zuviel vom Leben verlangt, für die tiefen Gefühle gibt es Dichter und  Verse, die sie in dem dicken gelben Buch liest, wenn die heilige und fürchterliche Nacht vor dem Fenster so schwarz wird, wie nicht mal das Nichts sein kann. 

Sie schläft, isst, schaut. Die Sätze werden wortkarg, dürr, abgenagt, verhungert bis auf die Knochen der Existenz. Wobei schon solches Beschreiben aufgeblasen wirkt. In seinem vorigen Roman „Die trunkene Fahrt“ (über eine Reise von vier herrlich trunken delirierenden Klassikliebhabern) lies Selge gegen Ende des Textes die Schrift immer kleiner werden, bis sich die Geschichte im Unlesbaren verlor. Sterben macht sprachlos. Wieso überhaupt sterben, auch das ist ein viel zu großes Wort für die kleine Frau. Sie verschwindet im Gedrängel. Ist einfach weg. Spurlos. Die Lücke, die sie nicht hinterlässt, füllt zu unserem Glück dieser große kleine Roman. 

Albrecht Selge: Fliegen. Rowohlt, Berlin 2019. 172 S., 20 Euro.